Wenn heutzutage von Ökosystemen die Rede ist, dann muss nicht Biologie gemeint sein. Die vernetzte Welt mit ihren diversen Nutzergruppen und Systemen gleicht einem sich ständig weiterentwickelnden Biotop. Geschäfts- und Marketingmodelle wandeln sich mit der Veränderung der Technik. Disruptive Innovationen stellen unser bisheriges Verständnis von Angebot und Leistung sowie den Beziehungen der Marktteilnehmer untereinander teilweise auf den Kopf.
Wie funktioniert die digitalisierte Wirtschaft? Wer kann davon profitieren? Fragen an Prof. Dr. Rolf Weiber von der Universität Trier. Dort forscht er unter anderem zu den Digitalisierungsthemen Share Economy, Plattformunternehmen, Dienstleistung 4.0 und Big Data.
euromicron: Herr Prof. Weiber, welche wichtigen Trends aus der Digitalisierung beschäftigen derzeit die Unternehmen?
- WEIBER: Da gibt es zum einen die Liste der technologischen Megatrends, wie sie die Marktforschungsgesellschaft „Gartner Group“ jährlich formuliert hat: künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge, immersive Technologien, digitale Plattformen und digitale Ökosysteme. Diese technologischen Veränderungen beeinflussen den Markt und die Beziehungen der Unternehmen zu ihren Kunden. Sie breiten sich rasant aus und verändern die Möglichkeiten von Unternehmen und ihren Kunden. Das kann man gut am Thema Robotik und Cloud Computing sehen.
euromicron: Der Spagat zwischen traditionellem Kerngeschäft und neuen Geschäftsmodellen wird immer anspruchsvoller. Wie kann er gelingen?
- WEIBER: Indem der Kundennutzen klar kommuniziert wird. Unternehmen müssen wissen, was die Endkunden brauchen. Marketing will immer den Endkunden verstehen. Und verstehen heißt: Wenn sich jemand eine Küchenmaschine kauft, dann will er nicht Möhren klein hacken, sondern Salat essen, sich gesund ernähren, Rezepte ausprobieren oder seine Freunde mit gutem Essen beeindrucken. Das Gerät selbst interessiert nur wenig. In Zukunft werden die Hersteller vielleicht ihre Produkte kostenlos bereitstellen und die Erlöse über die Nutzungsdauer oder Nutzungsintensität erzielen – Pay-per-Use ist ein solcher Ansatz. Das heißt, die technischen Lösungen müssen auf den Kundennutzen und entsprechende Geschäftsmodelle hin geprüft werden und die Hersteller müssen ein sehr hohes Maß an Empathie für ihre Kunden entwickeln, wobei auch hier zum Beispiel Immersive Technologies helfen können.
euromicron: Der Mittelstand zeigt derzeit noch Zurückhaltung bei der Investition in leistungsfähige digitale Infrastrukturen, vernetzte Produktionsanlagen oder Gebäude. Warum ist das so?
- WEIBER: Der Mittelstand hat eine hohe Sensibilität beim Verhältnis von Investitionen und Wirtschaftlichkeit. Entwicklungskosten und Investitionen in Produktionsanlagen müssen schnell ergebniswirksam werden. Oft fehlen – im Vergleich zu Großunternehmen – die Finanzkraft und deshalb das Durchhaltevermögen. Kleinere Unternehmen benötigen von vornherein eine Vermarktungsstrategie und einen Nachweis für den Kundennutzen. Aber gerade bei komplexen und disruptiven Innovationen sind die Potenziale nicht immer einfach zu erkennen. Das kann man sehr gut an historischen Zitaten ablesen. Thomas J. Watson, Gründer von IBM, sagte 1943: „Ich denke, der Weltmarkt kann fünf Computer aufnehmen.“ Und Bill Gates war noch 1981 im Hinblick auf den Bedarf an Hauptspeicher für PCs der Meinung: „640 kB ought to be enough for anybody.“ Was ich damit sagen will: Diese Leute waren absolute Spezialisten in ihrem Fach und haben die Bedeutung der Veränderung trotzdem nicht erkannt. Es muss also ganz sichtbar werden, was der Nutzen der Digitalisierung sein könnte. Nur dann werden Unternehmen auch investieren.
euromicron: Welche entscheidenden Hürden sehen Sie darüber hinaus?
- WEIBER: Die wichtigste Hürde besteht sicher in der Umsetzung. Viele Unternehmen – gerade im Mittelstand – haben die technologischen Kompetenzen nicht. Umso schwerer ist es für sie, die Menschen ins Boot zu holen. Je radikaler und disruptiver die Veränderungen, desto größer ist die Verweigerungshaltung. Eine ganz zentrale Frage für das Gelingen von Digitalisierung ist: Wie gut gelingt es dem Unternehmen, seine Mitarbeitenden mitzunehmen? Die großen Hürden heißen „Kennen“, „Können“ und „Wollen“. Das heißt: Weiß ein Mensch von einer Technologie und ihren Vorteilen? Kann er sie auch beherrschen? Und will er sie nutzen? Menschen haben Beharrungstendenzen. Und deshalb muss man sie motivieren und ihnen auch ein Budget bereitstellen, um Neues zu lernen. Nur in die Hardware von Technologien zu investieren wird nicht ausreichen. Ein weiteres Hindernis: Mit dem Implementieren einer neuen Technologie geht in der Regel ein vorübergehender Knick in der Produktivität einher. Das trauen sich gerade Manager oft nicht, weil es zunächst wie ein Misserfolg wirkt.
euromicron: Wie steht es demgegenüber mit den Potenzialen?
- WEIBER: Die Potenziale sind natürlich riesig. Da sind zunächst die Kosteneinsparungen aufgrund von Prozessautomatisierungen – allein durch solche Optimierungen können Unternehmen gewaltig profitieren. Darüber hinaus sind gerade die mittelständischen Unternehmen oft flexibel, kreativ und sehr nah am Kunden. Das passt zu den Möglichkeiten des „Internets der Dinge“, zu neuen Geschäftsmodellen und Dienstleistung 4.0. Der Mittelstand hat oft eine hohe Sensibilität für die Kundenbedürfnisse, entwickelt Lösungen nicht für, sondern sogar mit den Kunden. Und vielleicht sind gerade die Unternehmer-persönlichkeiten im inhabergeführten Mittelstand auch am ehesten in der Lage, radikale Veränderungen wirklich umzusetzen und die Menschen in den Unternehmen mitzunehmen. Die sogenannten „Hidden Champions“ jedenfalls sind alle Mittelständler, die in ihren Bereichen Weltmarktführerschaft erreicht haben.
euromicron: Welche Bereiche lassen sich im Unternehmen leichter digitalisieren? Welche sind schwieriger?
- WEIBER: Einfacher ist es gewöhnlich in den stark technisch basierten Aufgabenfeldern, wie zum Beispiel in der Fertigung und in allen Bereichen, bei denen der Nutzen neuer Technologien sofort zu sehen ist. Schwieriger ist es in allen Bereichen, in denen der menschliche Erfahrungsfundus hohe Bedeutung besitzt und dort, wo neue Technologien Verhaltensänderungen oder neue Fertigkeiten bei den Menschen erfordern. Es ist oft besser, Umstellungen schritt- oder abteilungsweise einzuführen – Digitalisierung nach der Salami-Taktik – und erste Erfahrungen zu machen, die sich dann übertragen lassen. Am einfachsten haben es natürlich ganz kleine Start-ups, die gar nichts ändern müssen, sondern sich von vornherein ganz auf neue Technologien ausrichten können.
euromicron: Welche Rahmenbedingungen müssen erfüllt sein, damit Digitalisierung gelingt?
- WEIBER: Ein Unternehmen muss mit den Kunden zusammen agieren wollen. Man nennt das interaktive Wertschöpfung. In jedem Schritt des Prozesses sind die Kunden im Boot – von der Entwicklung bis zur Nutzung von Produkten. Das ist natürlich eine ganz neue Rolle für Unternehmen.
euromicron: Wenn es gelingt, digitalisierte Prozesse technologisch umzusetzen, folgen dann die ökonomischen Vorteile quasi automatisch?
- WEIBER: Nein! Automatisch geht hier gar nichts! Es bedarf in jedem Unternehmen einer auf die technischen Besonderheiten angepassten, ganzheitlichen Ausrichtung. Dazu zählen auch völlig neue Strategie- und Marketingansätze, wie zum Beispiel das wettbewerbsorientierte Informationsmanagement, das interaktive Marketing, die Anbieterintegration und die Nutzungsvermarktung. Albert Einstein hat das in einem Satz auf den Punkt gebracht: „Die Probleme der Welt lassen sich nicht mit der gleichen Denkweise lösen, die sie erzeugt haben.“ Wir befinden uns sozusagen in einer Denkfalle und müssen es schaffen, die gewohnten Mechanismen aufzubrechen. Das ist nicht so leicht.
euromicron: Herr Prof. Weiber, was beschäftigt Sie persönlich am stärksten an der Digitalisierung?
- WEIBER: Die neuen Technologien begeistern und faszinieren mich, sie bringen viel Erleichterung und sind nützlich. Andererseits ist die Frage, ob der Mensch nicht unter Kompetenzverlust leidet: weil wir zum Beispiel nichts mehr wissen müssen, sondern zukünftig Informationen durch smarte Assistenten in Echtzeit kontextabhängig bereitgestellt werden können. Aber wie bewerten wir etwas, wenn wir keine Kenntnisse mehr haben? Auf welcher Basis geschieht das? Und bedeutet das nicht auch einen Verlust an Selbstständigkeit und Autonomie? Manches, was uns heute für neu verkauft wird, ist aber auch schon ein alter Hut. Was sich aber definitiv ändern muss, ist das Denken. Das zu vermitteln, ist mir ein Anliegen.